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Stufen des Erkennens

In der Zweitauflage seiner Philosophie der Freiheit spricht Steiner vom intuitiven Denken. In seiner Anthroposophie spricht er aber auch von Intuition, dort ist sie die höchste Erkenntnisstufe des übersinnlichen Erkennens, neben der Imagination (erste Stufe) und der Inspiration (zweite Stufe). Die Frage drängt sich damit auf: Wie verhält sich das intuitive Denken zur Intuition als der höchsten Erkenntnisstufe?

Bei meiner Suche nach Steiners Antwort auf diese Frage, fand ich, zu meine großen Überraschung, im Vortragswerk (Stuttgart, 3. September 1921) eine Textstelle die ganz deutlich genau diese Frage beantwortet. Es geht um eine Stelle im Band 78 der GA: Anthroposophie, ihre Erkenntniswurzeln und Lebensfrüchte. Dort kann man auf S. 128-9 Folgendes lesen:

"Dann leben wir in der Intuition, wenn wir mit der geistigen Wirklichkeit einig sind, das heißt nichts anderes als: an dem einen Pol des Menschen, wie er heute in dieser Weltperiode dasteht, lebt das gegenständliche Erkennen. Zwischen beiden stehen drinnen Imagination und Inspiration. Aber wenn man den Menschen des gewöhnlichen Lebens schildern will, dann muss man, wenn man ihn als Handelnden, als moralisch Tätigen auffasst, für dieses eine herausgeschälte Gebiet der sittlichen Motive, schon zum Behufe einer Freiheitsphilosophie, die moralische Intuition finden. Man findet dann, wenn man dasselbe für den ganzen Kosmos ausbildet, was man durch eine solche Freiheitsphilosophie für die Grundlage des menschlichen Handelns ausbildet, die Intuition über den ganzen Kosmos realisiert, während man sie sonst nur auf dem eingeschränkten Gebiete des menschlichen Handelns findet. Aber während man einfach durch die gewöhnlichen, natürlichen Anlagen des Menschen hier in den physischen Welt zu dem gegenständlichen Erkennen des Alltags die moralische Intuition hinzufügt, wenn man ein moralischer Mensch ist, muss man, wenn man zur wirklichen Welterkenntnis kommen und, ich möchte sagen, landen will bei der kosmischen Intuition, die im Kosmos entspricht der moralischen Intuition für das Innere des Menschen, dann muss man beide Stufen der Imagination und Inspiration durchlaufen. Mit andern Worten: schildert man den Menschen, so kann man das tun durch eine Freiheitsphilosophie. Da ist man nur genötigt, zu dem eingeschränkten Gebiet des intuitiven Erlebens für das menschliche Handeln zu kommen. Sucht man eine dieser Freiheitsphilosophie entsprechende kosmische Anschauung, dann muss man dasselbe, was man dort auf eingeschränktem Gebiete getan hat, erweitern, indem man die Stufen der Erkenntnis ausbildet: gegenständliches Erkennen, Imagination, Inspiration, Intuition."

Ich habe versucht diese Stelle in zwei graphischen Bildern darzustellen. Das erste Bild gibt schematisch wieder, welche die Erkenntnisfähigkeiten sind über die der moderne, geistig normal gesunde Mensch verfügt.

Stufen des Erkennens Bild 1: Das moderne, normale BewusstseinGanz unten im Bild haben wir die sinnliche Wahrnehmung. Zusammen mit dem intuitiven Denken (im Bild: "Intuition") bildet diese das "gegenständliche Erkennen", wie Steiner dies in der oben zitierten Stelle nennt. Damit meint er das Erkennen der auf das Sinnliche und das Denken gegründeten Wissenschaft. Dieses intuitive Denken brauchen wir aber auch noch für etwas anders, nämlich es ist das Herzstück unserer Freiheit. Das alltägliche Denken ist ein intuitives und als solches liefert es auch unsere moralische Intuitionen, die wir brauchen um als Mensch frei tätig sein zu können. Bereits das normale Bewusstsein des modernen Menschen ist damit imstande Übersinnliches wahr zu nehmen: die Ideen und Begriffe die es verarbeitet beim gegenständlichen Erkennen und die moralischen Intuitionen, die es mittels moralische Phantasie und Technik im gegenständlichen Leben, so gut es geht, zu verwirklichen versucht (moralisch meint: sinnvoll im möglichst gesamten Weltzusammenhang stehend).

Damit ist die Beschreibung des Normalbewusstseins aber noch nicht erschöpft. Steiner nennt sie in der oben zitierte Stelle nicht, aber es gibt natürlich auch noch die Fähigkeit der Phantasie und des Gedächtnisses. Beide Fähigkeiten bergen eine bestimmte Potenz in sich. Die Fähigkeit des Gedächtnisses ermöglicht, dass wir uns selbst beobachten können, auch unser inneres Leben. Im Kapitel III seiner Philosophie der Freiheit thematisiert Steiner die Beobachtung des Denkens und argumentiert dort, dass wir nur vergangene Denkprozesse beobachten können. Es ist nicht möglich das gegenwärtige Denken zu beobachten, dass heißt, das Denken wenn es sich in unserem Inneren ereignet. Die Gründe für diese These, die er dort entwickelt, werde ich hier nicht thematisieren. Aber es ist damit deutlich, dass es das Gedächtnis ist, durch welches wir diesen Ausnahmezustand, wie Steiner die Beobachtung des Denkens dort charakterisiert, unter die Voraussetzung eines guten Willen, wie er dort schreibt, in uns selbst verwirklichen können. Die Selbstbeobachtung und als eine besondere Form derselben, die Beobachtung des Denkens, gehört also mit zu den Fähigkeiten des modernen, normalen Bewusstseins. Dies steht nicht in der oben zitierte Stelle, aber durch Kombinieren mit den relevanten Textstellen der Philosophie der Freiheit liegt diese Interpretation nahe.

Das gilt auch für folgenden Gedanken. Neben dem Gedächtnis als eine Fähigkeit des Normalbewusstseins, gibt es auch noch die Phantasie. Also diejenige Fähigkeit unserer Vorstellung, durch die wir innerlich abweichen können von der gegenständlichen Wirklichkeit. Ich glaube, dass die Meditationen, die Steiner zufolge zu den höheren Erkenntnissen führen (vergleich dazu z.B. sein Buch Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?), auf dieser Fähigkeit aufbauen.* Es geht darum ein reges inneres Leben zu entwickeln, dass sich emanzipiert von dem rein gegenständlichen Erkennen. Auf diese Weise bildet man in sich dann diejenigen geistigen Wahrnehmungsorgane, die dazu führen, dass man Imaginationen und Inspirationen erlebt. Also einen Zugang sich bildet zu den "höhere Welten", von denen Steiner spricht in seiner Anthroposophie. Obwohl es nicht so ist, dass die Fähigkeit der Imagination zum Normalbewusstsein gehört, ist es ganz gewiss doch so, dass die Fähigkeit, die Meditationen und Übungen des anthroposophischen Schulungsweges auszuführen, zu diesem Bewusstsein dazu gehört. Ein jeder kann die Übungen und Meditationen des Schulungsweges in sich verwirklichen. Auch dann, wenn dies zunächst nicht zur Erlangung der Fähigkeiten des höheren Erkennen führt. Dies kann sogar derjenige, der die Möglichkeit der "höheren Erkenntnis", wie Steiner diese in seinen Arbeiten vertritt, gar nicht anerkennt. Ein jeder kann innerlich meditieren und üben, auch derjenige, der nicht glaubt an das Ziel, dass die Anthroposophen dadurch zu erreichen hoffen.

* Natürlich nicht nur auf diese Fähigkeit, denn auch die andere Fähigkeiten des Normalbewusstseins kommen in Betracht. In diesem Sinne muss ich das oben eingefügte Schema gleich wieder relativieren.

Die Frage, wie die Intuition des intuitiven Denkens der Philosophie der Freiheit sich verhält zu der Intuition der "höheren Erkenntnis", lässt sich jetzt ganz einfach lösen. Steiner sagt in der oben zitierte Stelle ganz deutlich, dass die erstere Form der Intuition eine eingeschränkte Version ist der größeren kosmischen Intuition. Wo die Erstere nur die Ideen und Begriffe des gegenständlichen Erkennen und des freien Handelns erfasst, erfasst die Letztere eine viel breiteres Feld der Wirklichkeit, das auch die höhere geistige Wesenheiten, die Steiner in seine Anthroposophie beschreibt, umfasst. Deshalb nennt er diese Letztere auch die kosmische Intuition, weil durch diese den ganzen Kosmos erfasst werden kann. Diese Stufe des Erkennens kann erreicht worden, wenn man zuerst, mittels des Schulungsweges, die Stufen der Imagination und Inspiration in sich selbst verwirklicht. Ohne Imagination und Inspiration kann es auch keine kosmische Intuition geben. Das intuitive Denken, also diese eingeschränkte Form der Intuition, können wir aber ohne weiteres erfolgreich betätigen, auch dann, wenn wir nicht über die Fähigkeit der Imagination und Inspiration verfügen. Ein jeder verfügt darüber, auch diejenigen, die nicht anerkennen, dass es Geistiges gibt (das gegenständliche Erkennen und die moralische Intuition sind bereits ein Erarbeiten von Geistigem, auch dann, wenn wir das nicht (an)erkennen). Im folgendem Schema habe ich graphisch darzustellen versucht was hinzu kommt, wenn das Normalbewusstsein der heutigen Menschen in sich - mittels einen geistigen Schulungsweg - die Fähigkeiten der Imagination, Inspiration und kosmische Intuition verwirklicht.

Stufen des Erkennens Bild 2: Das moderne, normale Bewusstsein zusammen mit das der Erkenntnis der höheren Welten Durch die Meditationen und Übungen, die das Normalbewusstsein in sich entwickeln kann, entsteht - Steiner zufolge - die Fähigkeit zur Imagination und Inspiration und in einer dritten Stufe wird die Intuition des intuitiven Denkens erweitert zu einer kosmischen Intuition, die nicht nur die Idee begrifflich/gedanklich erfasst, sondern auch Wesenheiten, die darüber hinaus gehen und die "leben" bzw. tätig sind im ganzen Kosmos.

Dies ist, sozusagen, die "Architektur" des Bewusstseins in Steiners Verständnis, wie ich mir dies, aufgrund der erwähnten Textstellen, ausgelegt habe. Damit habe ich aber nicht mehr getan als zu zeigen, dass Steiner dieses Verhältnis zwischen, einerseits dem intuitiven Denken bzw. der moralischen Intuition und andererseits, der kosmischen Intuition, annimmt. Bei der Erkenntnis dieses Verhältnis kommt aber die tiefergehende Frage auf, warum er beiden Fähigkeiten den gleichen Namen gibt und ein derart inniges Verhältnis zwischen beiden annimmt. Diese Frage ist aber leicht zu beantworten, wenn man die Eigenschaften vergleicht, die Steiner dem intuitiven Denken beilegt in seiner Philosophie der Freiheit, mit den Eigenschaften, die er der kosmischen Intuition beilegt und die auch ein wichtiger Unterschied bedeuten zur Imagination und Inspiration. Im intuitiven Denken, so Steiner, erfassen wie die Idee. Dabei ist es so, dass wir diese erfassen als dasjenige was sie ist. Beim Denken können wir naiv bleiben, hinter das Denken versteckt sich keine andere Wirklichkeit, die wir als Denkender nicht "sehen" und der wirklicher sein würde als das Denken selbst. Deshalb vergleicht Steiner das Denken (vergleiche Kapitel III der Philosophie der Freiheit) auch mit dem archimedische Hebel. Wenn wir das Denken beobachten, erfassen wir das Denken wie es ist, und wenn wir Denken, erfassen wir die Idee wie sie ist. Wir stoßen zu einem Stück Wirklichkeit durch und tun dies auf eine derartige Weise, dass wir ganz gewiss sein können darüber, dass wir dies tun.

Und genau so ist es auch mit der kosmischen Intuition. Auch hier erfassen wir und weil es um Wesenheiten geht, begegnen wir der Wirklichkeit unmittelbar so, wie sie ist. An sehr viele Stellen seines Gesamtwerks sagt Steiner seine Lesern und Zuhöhern sehr deutlich, dass die Imagination uns nicht mit der Wirklichkeit der höheren Welten unmittelbar verbindet, sondern das hier in Bildern etwas erscheint, was uns mittelbar über diese Wirklichkeit etwas sagt, wenn wir diese Bildern erst richtig erklären. Dieses Letzte geschieht mittels die Inspiration. Diese liefert uns die Erklärung, die wir brauchen, um die Imaginationen richtig zu verstehen. Als Erklärung der Imaginationen verbindet damit aber auch die Inspiration uns nicht unmittelbar mit die Wirklichkeit der "höheren Welten", auch sie bleibt noch ein Art "Schleier" durch die wir nur Sachen über sie erkennen. Erst die kosmische Intuition, so Steiner, als dritte Stufe der höheren Erkenntnis, ermöglicht, dass wir ein unmittelbares Verhältnis aufbauen zu den Wesenheiten und Begebenheiten der höheren Welten. Erst die kosmische Intuition führt uns also zur vollen Wirklichkeit.

Durch diese Eigenschaft der unvermittelten Wirklichkeitsnähe sind also die eingeschränkte Form der Intuition, das intuitive Denken und die kosmische Intuition als dritte Stufe der höheren Erkenntnis in Steiners Verständnis wesensgleich. Auf diese Weise kann man dann auch ganz gut verstehen, warum er die kosmische Intuition als eine Erweiterung des intuitiven Denkens sieht. Sie gehören zusammen, obwohl die eine bereits zum Normalbewusstsein gehört, die andere dagegen erst entsteht als Folge der Ausübung des Schulungsweges. Die Frage, warum sie erst entstehen kann wenn die Stufen der Imagination und Inspiration durch innere Schulung erreicht worden sind, ist eine berechtigte. Ich habe sie aber bisher noch nicht beantworten können.

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